Arbeiten 4.0: Blick in die Glaskugel

Die Digitalisierung krempelt die Arbeitswelt um. Muss die Politik einschreiten, um Arbeitnehmer/innen zu schützen und Unternehmen den Umbau zu erleichtern? Der Arbeitsmarktforscher Dr. Oliver Stettes liefert aktuelle Einschätzungen.

Eine Glaskugel, in der sich ein Industriegebäude spiegelt

Das Bundesarbeitsministerium (BMAS) hat Ende November das Weißbuch Arbeiten 4.0 vorgestellt. Seiner Erstellung ging ein mehrmonatiger Dialogprozess mit Akteur/innen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft voraus. Das Weißbuch zeigt, dass digitale Technologien ein großes Potenzial haben, die Arbeitswelt zu verändern. Darin sind sich im Grunde alle Beobachter/innen einig.

Bei genauem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass wir derzeit eigentlich noch gar nicht genau wissen, wohin die Reise gehen wird. Das wird vom BMAS zwar auch zugestanden, gleichwohl sieht das Ministerium bereits regulativen Handlungsbedarf, um die Beschäftigten vor den vermeintlichen Risiken zu schützen. Und so mancher Vorschlag – wie die Arbeitsversicherung, die Ausweitung der Mitbestimmung, das Recht auf Wahlarbeitszeit – kommt dem/der arbeitsmarktpolitischen Beobachter/in bereits bekannt vor.

Es ist aber anzuerkennen, dass mit dem Dialogprozess Experimentierräume in Sachen Arbeitszeit geschaffen und neue Wege erkundet werden sollen. Doch die flankierenden regulativen Voraussetzungen – Tarifbindung, Betriebsvereinbarung und Verknüpfung mit Wahlarbeitszeiten –, die im Weißbuch genannt werden, lassen die Abweichungen vom bestehenden Rechtsrahmen zu einem Placebo werden. Hier wäre mehr Mut wünschenswert gewesen – nach dem Motto „Mehr Experimente wagen“. Denn für die vermeintlichen Bedrohungen finden sich zumindest derzeit keine überzeugenden Anhaltspunkte.

Weiterbildung zählt mehr denn je

Zu den Befürchtungen gehört zunächst die Vorstellung, dass Roboter und Algorithmen in großer Zahl Jobs verschwinden lassen. Sie wird weder durch Zahlen zur allgemeinen Beschäftigungsentwicklung noch durch Befunde empirischer Untersuchungen gestützt, die die Auswirkung der Digitalisierung auf das Beschäftigungsniveau zum Gegenstand hatten.

Zugegeben: Fortschritt hat stets Änderungen in der Arbeitswelt hervorgerufen und mancherorts zu einem Arbeitsplatzabbau geführt, weil das konkrete Geschäftsmodell nicht mehr trug oder die spezifische Tätigkeit überflüssig wurde. Die Beschäftigungsperspektiven hingen und hängen jedoch davon ab, in welchem Umfang die Kompetenzen vorliegen und erworben werden können, die in einem veränderten Umfeld oder an anderer Stelle gefordert sind.

Es ist die Aufgabe der Unternehmen, die berufliche Handlungsfähigkeit ihrer älter werdenden Beschäftigten zu stärken. Vor Ort existiert das Wissen, welche konkreten Kompetenzen durch welche Maßnahmen entwickelt werden sollen. Dann bleibt auch die Balance von Betriebs- und Beschäftigteninteressen gewahrt, die für diese Investitionen in das Humankapital elementar ist. Dies ist in Unternehmen, in denen die Digitalisierung bereits konkret im Fokus steht, bereits gut erkennbar. Die Idee, die Bundesagentur für Arbeit zu einer Weiterbildungsagentur für alle Beschäftigten umzubauen, hilft hier nicht.

Befristungen und Zeitarbeit

Auch die Sorge, das unbefristete sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnis könnte an Bedeutung verlieren, ist derzeit unbegründet. Befristungen und Zeitarbeit haben sich als wichtige Flexibilisierungsinstrumente zwar etabliert. Evidenz, dass die Digitalisierung ihre Verbreitung vorantreibt, existiert hingegen nicht. Gleiches gilt auch für neue Formen der Selbstständigkeit wie das sogenannte Crowdworking, das Anbieten der eigenen Arbeitskraft über Internetplattformen. Letzteres ist selbst in den Vorreiterbranchen der Digitalisierung wenig bekannt. Die Basis unserer sozialen Sicherungssysteme ist daher nicht bedroht.

Flexibilisierung – Fluch oder Segen?

Die neuen Möglichkeiten der räumlichen und zeitlichen Flexibilisierung von Arbeit bedrohen auch nicht die Qualität der Arbeit. Betriebe und Beschäftigte sehen sie gleichermaßen eher als Chance, insbesondere in Sachen Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Auch die Sorge, Informationsflut und ständige Erreichbarkeit könnten sich flächendeckend negativ auf die Gesundheit auswirken, begründet derzeit keine konkreten Regulierungsschritte.

Die empirische Evidenz zeigt: Wo Termin- und Leistungsanforderungen hoch sind, erlauben größere Handlungsspielräume den Betroffenen, diese auch zu bewältigen. Ständig erreichbar sind vor allem diejenigen, die sich aufgrund ihrer Stellung im Betrieb bewusst dafür entscheiden. Wie sich das Flexibilisierungspotenzial digitaler Technologien auf das Miteinander und die Arbeitsbedingungen auswirkt, hängt am Ende von unserem eigenen Verhalten als Führungskräfte und Mitarbeiter/innen ab.

Dr. Oliver Stettes
Leiter des Kompetenzfelds Arbeitsmarkt und Arbeitswelt, Institut der deutschen Wirtschaft Köln